Werner Jaeger. Neue Deutsche Biographie (Onlinefassung)

Friedrich Solmsen

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NDB-Artikel

Jaeger, Werner klassischer Philologe, * 30.7.1888 Lobberich (Niederrhein), † 19.10.1961 Boston (Massachusetts, USA). (evangelisch)

Genealogie

V Carl († 1909), Fabrikbes.; M Helene Birschel; ⚭ 1) Berlin-Charlottenburg 1914 Dora, T d. Geh. Oberstudienrats Dr. Rudolf Dammholz in Berlin u. d. Elise Schilling, 2) ebd. 1931 Ruth, T d. Dr. Georg Heinitz, Dir. d. Mossestifts, u. d. Bella Mommy Elisabeth Bohm; 3 K aus 1), 1 K aus 2).

 

Leben

Schon in den Gymnasialjahren ging J.s Studium der antiken Autoren und sein Interesse an Philosophie, zumal Religionsphilosophie, weit über das von der Schule Gebotene hinaus. Auch als Student in Marburg (SS 1907) und Berlin (WS 1907-SS 1911) bewahrte er sich seine Unabhängigkeit. Er besuchte wenige Vorlesungen, doch waren Seminare ihm wertvoll, und er hat sich immer U. v. Wilamowitz-Moellendorff und neben ihm Hermann Diels, Eduard Norden, Johannes Vahlen und dem Philosophen →Adolf Lasson tief verpflichtet gefühlt. Zusammen mit seiner Dissertation legte er sein erstes Buch „Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des →Aristoteles“ (1912) der Fakultät zur Promotion vor. Nach mehr als 40 Jahren war er der erste klassische Philologe in Berlin, welcher summa cum laude promoviert wurde. Das Buch wurde bahnbrechend für die Erkenntnis der nicht-literarischen Natur von →Aristoteles’ lediglich für seine philosophische Schule bestimmten Werken. Nach seinem Doktorexamen wurde J. die Ausgabe des Kirchenvaters Gregor von Nyssa anvertraut, und er verbrachte ungefähr 2 Jahre in Italien, vor allem in Rom, zum Studium der Handschriften. Doch fand er auch für andere umfangreiche Arbeiten Zeit, insbesondere für seine Habilitationsschrift „Nemesius von Emesa. Quellenforschungen zum Neuplatonismus und seinen Anfängen bei Poseidonios“ (1914), wohl sein gewichtigster Beitrag zur hellenistischen Philosophie. Im Juni 1913 wurde er in Berlin habilitiert. Während seines 1. Semesters als Privatdozent erhielt J. einen Ruf als ao. Professor an die Univ. Basel. An die 3 Semester seiner Lehrtätigkeit dort hat er sich besonders gern erinnert. Für das WS 1915 nahm er einen Ruf als o. Professor nach Kiel an, wo er 6 Jahre als Kollege von Felix Jacoby lehrte, gleichzeitig aber zwei große Arbeiten so weit förderte, daß sie sehr bald nach seiner Übernahme der Berliner Professur zur Veröffentlichung reif waren. 33jährig kam J. 1921 als Nachfolger von Wilamowitz nach Berlin. Hier erwarteten ihn weit größere Lehraufgaben sowie umfangreiche Verwaltungspflichten, die sich bald noch durch seine Wahl in die Berliner Akademie (1924) vermehrten. Doch konnte er sofort seine Ausgabe von Gregor von Nyssas dogmatischpolemischem Werke „Contra Eunomium“ (I, 1921, II, 1922) veröffentlichen, und sehr bald folgte sein „→Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung“ (1923, ²1955, engl., span., ital. Überss.). Der Untertitel zeigt, welchen neuen Gesichtspunkt dieses Buch in die Aristotelesforschung einführte. Es machte einen ungewöhnlich starken Eindruck, und obwohl nach einiger Zeit manchmal in Prinzip, viel häufiger in Details bestritten, hat es die Aristotelesforschung der nächsten 50 Jahre beherrscht. Auch aus dem Ausland kamen bald Anerkennung und Ehren, wie denn J. als einer der ersten nach 1919 wieder Verbindung mit dem Kulturleben des Westens pflegte.

Die durch antike Erbschaft geprägte Einheit der westlichen Kultur beschäftigte sehr. Während seines Berliner Wirkens traten für ihn die im Griechentum selbst liegenden Kräfte, die zunächst die griechische, dann auf dem Weg über die Römer andere Kulturen gestaltet haben, immer mehr in den Vordergrund. Die griech. Auffassung vom Wesen des Menschen, von seiner sittlichen Natur, wie sie sich im Leben der Gemeinschaft entfaltet, verfolgte J. in Vorlesungen durch die Literatur von Homer bis Plato und behandelte sie vielfach in Vorträgen, Aufsätzen und Untersuchungen. Diese neue Orientierung auf das Zentrale sicherte ihm in Verbindung mit seiner magnetischen Persönlichkeit und Gabe zur fesselnden Darstellung einen großen Lehrerfolg, und er gewann manchen hochbegabten Philologen als Schüler. Auch gruppierte sich um ihn eine Anzahl ähnlich gesinnter Altertumswissenschaftler, die die alle 2 Jahre stattfindenden „Fachtagungen“ von 1926 an, zuerst in Weimar, dann in Naumburg, organisierten und sich im „Gnomon“ eine neue Rezensionszeitschrift von wissenschaftlichem Niveau schufen. Sie förderten auch die Gesellschaft für antike Kultur, als deren 2. Vorsitzender J. Herausgeber der Zeitschrift „Die Antike“ wurde (1925-36), die einem gebildeten Publikum Erkenntnisse von den künstlerischen und kulturellen Schöpfungen der Griechen und Römer vermittelte. Enger mit seiner Lehrtätigkeit verknüpft war die Herausgabe von Erstlingswerken seiner Schüler in der Reihe der „Neuen Philologischen Untersuchungen“. Zwischen solchen und vielen anderen Verpflichtungen dauerte es manche Jahre, bis J. seine neue Auffassung der griech. Kultur in Buchform vorlegen konnte. Der 1. Band der „Paideia, Die Formung des griech. Menschen“ erschien 1934, der 2. und 3. wurden erst später in den USA ausgearbeitet (II, 1943, III, 1944, mehrere Aufl., engl., span., ital. Überss.).

Als im geistigen Verfall nach 1933 die Aussichtslosigkeit einer auf den Werten der Antike basierten Bewegung immer deutlicher wurde, entschloß sich zur Umsiedlung nach den USA. Eine Vortragsreihe über Demosthenes (als Sather Professor an der Stanford University) hatte ihn bereits 1935 für ein Semester nach Californien geführt. 1936 gab ein Ruf der Chicago University den Ausschlag für die Emigration. 1939 verließ J. Chicago und begann seine Tätigkeit als Professor in Harvard. Dank der Unterstützung der Universität konnte er nun eine Gesamtausgabe des Kirchenvaters Gregor von Nyssn organisieren. Unter jüngeren Gelehrten bildete J. sich einen Stab von Mitarbeitern aus, die einen wesentlichen Teil der zahlreichen, oft umfangreichen Schriften edierten (in Deutschland arbeitete nach 1945 sein Schüler H. Langerbeck mit, der nach J.s Tod die Ausgabe weiterführte). J. selber beteiligte sich mit der Ausgabe von 3 asketischen Schriften im 8. Band (1952). Von Publikationen seiner amerik. Zeit sind neben den 2 letzten Bänden der „Paideia“ die Sather-Vorträge „Demosthenes, The Origin and Growth of his Policy“ (1938) zu erwähnen. In den Anfang dieser Zeit fällt auch das Buch „Diokles von Karystus. Die griech. Medizin und die Schule des →Aristoteles“ (1938), eine Frucht seiner eingehenden Beschäftigung mit antiker Medizin als Direktor des Corpus Medicorum Graecorum in der Berliner Akademie. Etwas später erschien „The Theology of the Early Greek Philosophers“ (1947), sehr bedeutsam als ein Ausgleich zwischen der scheinbar anthropozentrischen Auffassung griech. Kultur in „Paideia“ und dem religiösen Element, das J. von jeher stark beschäftigte.

Neben Organisation und eigenem Forschen blieb die Lehrtätigkeit sehr wichtig. Eine regelmäßig wiederholte Vorlesung, im Inhalt der „Paideia“ ähnlich, zog zahlreiche Studenten an; sie war ein Teil des „General Education“ Programms von Harvard. Außerdem hielt J. regelmäßig ein Seminar und half vor allem in den Kriegsjahren auch bei den Undergraduates aus. Allgemein verehrt, ist er bis zu seinem 72. Lebensjahr (1960), über den normalerweise letzten Termin der Emeritierung hinaus als Lehrer tätig gewesen.|

 

Auszeichnungen

Mitgl. zahlr. Akademien; vielfacher Ehrendoktor (u. a. Manchester 1926, Cambridge 1932, Harvard 1936, D. theol. Tübingen 1958). Friedenskl. d. Ordens pour le  mérite.

Werke

Weitere W Two Rediscovered Works of Ancient Christian Lit.: Gregory of Nyssa and Macarius, 1954; Aristotelis Metaphysica (ed., Oxford Classical Texts), 1957; Early Christianity and Greek Paideia, 1961; Gregor v. Nyssas Lehre v. Hl. Geist, 1965 (postum). – Aufsatzslgg.: Humanist. Reden u. Vorträge, 1937, ²1960 (stark erweitert); Scripta Minora, 2 Bde., 1960 (darin: An Intellectual Autobiogr.); 5 Essays, 1966 (darin: Notes towards an Autobiogr.; vollst. W).

 Literatur

M. Lebeck, in: Zs. f. phil. Forschung III, 2, 1948, S. 270 ff.;

K. v. Fritz, in: Jb. d Bayer. Ak. d. Wiss. 1962, S. 195-97 (P);

H. Langerbeck, in: Gnomon 34, 1962, S. 101 ff.; Order of Funeral Service, Harvard University Memorial Church, 22.10.1961;

J. Finley, in: Classical Journal 58, 1962, S. 94 ff.;

H. Bloch u. a., in: Harvard Univ. Gazette v. 2.3.1963; Sonder-H. mit Gedenkansprachen v. J. Finley u. K. Stendahl, o. J.;

H. hBloch, in: American Philosophical Society Yearbook 1963, S. 153 ff.;

W. Schadewaldt, Gedenkworte f. W. J., 1964; Rhdb. (P).

 

Autor

Friedrich Solmsen

Empfohlene Zitierweise

Solmsen, Friedrich, „Jaeger, Werner“, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 280-281 [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/